Ästhetische Bildung an unserer Schule
Die hundert Sprachen des Kindes
Ein Kind ist aus hundert gemacht.
Ein Kind hat hundert Sprachen
hundert Hände
hundert Gedanken
hundert Weisen zu denken,
zu spielen und zu sprechen.
Immer hundert Weisen zuzuhören
zu staunen und zu lieben
hundert Weisen zu singen und zu verstehen
hundert Welten zu entdecken
hundert Welten zu erfinden
hundert Welten zu träumen.
Ein Kind hat hundert Sprachen
doch es werden ihm neunundneunzig geraubt.
Die Erwachsenen trennen ihm den Kopf vom Körper.
Sie bringen ihm bei
ohne Hände zu denken
ohne Kopf zu handeln
ohne Vergnügen zu verstehen
ohne sprechen zuzuhören, zu lieben und zu staunen
nur Ostern und Weihnachten zu lieben und zu staunen.
Sie sagen ihm, dass die Welt bereits entdeckt ist
und von hundert Sprachen rauben sie ihm neunundneunzig.
Sie sagen ihm, dass das Spielen und die Arbeit
die Wirklichkeit und die Phantasie
die Wissenschaft und die Vorstellungskraft
der Himmel und die Erde
die Vernunft und der Traum
Dinge sind, die nicht zusammengehören.
Sie sagen also, dass es die hundert Sprachen nicht gibt.
Das Kind sagt: „Aber es gibt sie doch.“
(Malaguzzi, Begründer der Reggio-Pädagogik)
Nach Auffassung der Reggianer setzen Kinder alle Sinne ein, um die Welt zu verstehen, sich ein Bild von der Welt zu machen und Beziehungen einzugehen. Kinder verfügen über „100 Sprachen“ der Wahrnehmung, der Wahrnehmungsaneignung, des Ausdrucks und der Mitteilung.
Je intensiver alle Sinne in diese Wahrnehmung einbezogen sind, desto intensiver können die Kinder empfinden und denken lernen (in hundert verschiedenen Empfindungen), Erfahrungen sammeln und Hypothesen über die Welt aufstellen – also lernen und sich bilden. Die Ästhetische Bildung (gr. Aisthesis: sinnliche Wahrnehmung und Empfindung) verkörpert diesen Ansatz des Lernens mit allen Sinnen.
Neurowissenschaftler*innen weisen außerdem darauf hin, dass Sinneswahrnehmungen – und dabei vor allem die körpernahen Sinne – eine wesentliche Rolle bei der Vernetzung des Gehirns spielen. Das Denken der Kinder ist daher eng an die sinnlichen Erfahrungsprozesse geknüpft.
Neben den sinnlichen Eindrücken spielt der Ausdruck ebenso eine Rolle. Laut der Reggio-Pädagogik entfalten sich die „100 Sprachen“ der Kinder am besten im expressiven Ausdruck, sprich Tanz, Theater, Malen, Zeichnen, Musizieren, Gestalten u.v.m. Vor allem anhand dieser Tätigkeiten verleihen die Kinder ihren Eindrücken neuen Ausdruck.
Gerade im kreativen Tun („dem Eindruck Ausdruck verleihen“) knüpfen Kinder Beziehungen und treten in Dialog mit den Dingen und vereinen so Fantasie mit Weltverarbeitung.
An der EMILIA Heidelberg steht daher das Prinzip der „100 Sprachen“ im Zentrum. Also die Vielfalt sinnlicher, emotionaler und auch reflexiver Erfahrungen: das Sehen, Anfassen, Riechen, Hören, das sich Bewegen, Erinnern, Experimentieren und mit Gefühlen verknüpfen.
Entsprechend werden keine Wertunterschiede zwischen den „Sprechweisen“ gemacht.
Damit die Ästhetische Bildung – also die Wahrnehmung und das Verstehen der Welt über die Sinne, sowie der expressive Ausdruck – vielfach wirken kann, sind unser Schulalltag, die Räumlichkeiten und die Impulse an die Kinder so gestalten, dass in allen Aktivitäten der Kinder möglichst viele Sinne angesprochen werden und sie eigene kreative Wege für die Erfassung und Erforschung eines Themas wählen können. Ihren sinnlichen Wahrnehmungen dürfen und sollen die Schüler*innen jederzeit ästhetischen Ausdruck verleihen.
Kreative Ausdrucksformen und Wahrnehmungsebenen gehören beim fächerübergreifenden Arbeiten dazu.